Eine Bekannte hatte mir eine Freikarte für die Johannespassion geschenkt. Ich wollte einen ruhigen Karfreitag machen. Da passte das gut. Und sogar noch in der vierten Reihe in der Philharmonie. So einen guten Platz hatte ich noch nie. Ich konnte die Kinder des Kinderchores sehen, die leidenschaftlich mitsangen oder auch in den Pausen, wenn sie nicht dran waren, ihre Hände bestaunten und begutachteten. Es war wunderschön.
Bis auf … den Evangelisten. Er sang gut. Keine Frage. Aber irgendetwas an seinem Gebaren störte mich. Manchmal ging er in die Knie (vielleicht um Schwung zu holen?), Gestik und Mimik waren ziemlich intensiv. Ich fing an mich aufzuregen über das, was ich als theatralisch empfand. Und erinnerte mich an etwas, das ich heute Morgen in einem Vortrag von Johannes Hartl gehört hatte (frei wiedergegeben): Wenn wir über etwas nachdenken (oder es be- oder gar verurteilen) – sind wir nicht mehr in der Gegenwart. Werder in unserer eigenen achtsamen Präsenz noch in den wahrnehmbaren Gegenwart Gottes. Autsch.
Also versuchte ich, nicht mehr zu be- und verurteilen. Sondern einfach nur da zu sein und wahrzunehmen. Was trotz aller Anstrengungen gründlich misslang. Weil ich so nicht weiterkam, kam ich auf die Idee, Jesus um Hilfe zu bitten.
Ich fragte “Jesus, wie siehst du ihn denn?”
Schlagartig schoss mir eine Frage durch den Kopf: “Ist er nicht wunderschön?”
Es gibt Momente, da bin ich mir unsicher, ob ich etwas von Gott gehört habe, oder ob es meine eigenen Gedanken sind. Aber hier war klar: Dass war definitiv nicht mein Gedanke… Obendrein hatte ich es mit so einer Liebe und Wärme in der Stimme gehört, wie ich es nur von Jesus kenne…oder von wenigen Menschen, die stark von ihm geprägt sind.
Also betrachtete ich den Mann weiter und versuchte wahrzunehmen, was Jesus wohl an Schönheit in ihm sah… es war noch ein bisschen Ping-Pong zwischen dem, was mir nach wie vor nicht so gefiel und der Ahnung von dem, was Jesus wohl sah.
Und dann dachte ich auf einmal. Vermutlich geht es manchen Menschen mit mir ähnlich. Ich gestikuliere recht intensiv, wenn ich Vorträge halte, ein eher introvertierte Freund hat mal gesagt: “Wenn ich dich nicht kennen würde, würde ich Angst bekommen, wenn ich in der ersten Reihe sitze!”
Und ich dachte mir, wie es wohl wäre, wenn andere Menschen sich bei Menschen oder Jesus über mich beschweren. Wenn sie vielleicht sagen: “Mensch, ist die Kerstin Hack aber extrovertiert, laut, bunt!”
Ich würde mir wünschen, dass Jesus dann zu ihnen sagt: “Ist sie nicht wunderschön, meine Tochter!”
Langsam konnte ich es mehr und mehr sehen… die Schönheit, die Jesus in dem Sänger sah.
Am Ende beim Schlusschoral saß er ruhig da, sang aber aus ganzem Herzen mit, um den Chor zu unterstützen: “dich will ich preisen ewiglich!” Und als ein kleines Mädchen ihm einen Strauß Blumen überreichte, strahlte er so herzlich übers ganze Gesicht, wie ich schon lange niemanden mehr habe strahlen sehen. Er strahlte, ich weinte.
Ja, Jesus, er ist wunderschön!
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Im Nachhinein kam noch ein Sahnehäubchen obendrauf. Als die Sopranistin das Eingangslied “Ich folge dir nach mit freudigen Schritten!” singen hörte und ihr Gesicht dabei so intensiv strahlen sah, dachte ich: Die sieht so aus als würde sie das wirklich aus tiefstem Herzen singen. Im Nachinein hab ich “zufällig” erfahren, dass sie tatsächlich eine Freudin von Jesus ist… Sie hat sogar der zweiten Geige (die bekommen selten Blumen) ihre Blumen geschenkt. Das fand ich auch wunderschön.
Liebe Kerstin, wir kennen uns noch nicht, doch nachdem ich einer Freundin von meinem Besuch bei dieser wundervollen Aufführung geschrieben hatte, hat sie mir Deinen Link geschickt. Kein Zufall… Ich habe mit meiner Familie meinen Sohn (Chorsänger) begleitet und durfte gestern bei der Generalprobe zusehen, mit welcher Leidenschaft der Evangelist singt (und die anderen Mitwirkenden Musiker spielen und singen). Das ist mir aufgefallen und ich habe mich so gefreut, denn mir wurde klar, welche Hingabe und welche ausdrucksstarke Predigt ich sehen und hören darf. Ich fühle mich beschenkt!
Wie cool! Und ich finde es total spannend, wie die gleiche Handlung von einer Person als “zu viel” und von einer anderen als “Leidenschaft” empfunden wird….unser Herz und unsere Bewertungen sind wirklich spannend. Den Kinderchor fand ich klasse… es war so eine Freude, die Kinder zu sehen, die so voll dabei waren.
Liebe Krisitina, ich finde es immer noch wunderschön, was du schreibst. Gerade, als ich gebetet habe, ist mir noch was interessantes eingefallen. Wie wir Dinge erleben und bewerten, hat ganz viel mit unseren eigenen Bedürfnissen zu tun. Ich hatte eine sehr harte Woche (ein enger Freund liegt im Sterben) und von daher das Bedürfnis nach Ruhe. Und da war mir die intensive Gestik des Evangelisten einfach zu viel. Dir ging es vermutlich anders – für dich war es bereichernd, anregend, ermutigend, ihn so leidenschaftlich predigen zu sehen…