Vor 100 Jahren, genauer am 24. April 1915 wurden im damaligen Konstantinopel (heute: Istanbul) 235 Angehörige der armenischen Oberschicht verhaftet. Das war der Auftakt zu dem, was die meisten Historiker als den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts nennen. In den folgenden Monaten wurden schätzungsweise 1,5 der insgesamt 2 Millionen Armenier vertrieben, verbrannt. ermordet, in die Wüste gejagt, gekidnappt, zwangsverheiratet….
Vor drei Jahren empfand meine liebe Freundin Rosemarie Stresemann, dass Gott wollte, dass sie sich mit dem deutschen Anteil daran beschäftigen sollte. Sie las und forschte und stellte fest (von mir grob vereinfacht):
- 1878 verpflichtete Deutschland sich zum Schutz der Armenier (zusammen mit Russland und England)
- 1898 erklärt der Kaiser sich zum Freund aller Muslime.
- 1914 schlossen das Deutsche Reich und das osmansische Reich ein geheimes Militärabkommen. 800 Deutsche Offiziere sind in der Türkischen Armee tätig. Einige sind aktiv an den Massakern an den Armeniern beteiligt.
- 1915 Als der Völkermord an den Armeniern beginnt, werden Reichskanzler und andere politische Verantwortliche informiert und gebeten, ihren Einfluss auf die Türkei geltend zu machen, um die Armenier zu schützen. Die Verantwortlichen schreiben deutlich zurück, dass ihnen die Partnerschaft mit der Türkei wichtiger ist als das Schicksal der Armenier.
- 1918 Deutschland ermöglichtet den Hauptverantwortlichen die Flucht nach Berlin.
Ganz offensichtlich hat Deutschland “Mitverantwortung, wenn nicht gar Mitschuld” am Völkermord an den Armeniern, wie es Bundespräsident Gauck in einer Rede am 23. 4. 2015 formulierte.
Ende März gab es in der Berliner Gedächtniskirche einen ökumenischen Bussgottesdienst zum Thema “Mitschuld Deutschlands am Völkermord an den Armeniern.” Die Schuld wurde klar benannt . Das Schuldbekenntnis zur Mitschuld Deutschlands gibt es auch auf Youtube.
Dann haben wir Gott und die anwesenden Armenier um Vergebung gebeten. Es war für mich ein bewegender Moment als der armenische Bischof sagte: “Jetzt können wir zusammen das Vaterunser beten!” Dort wo Schuld nicht bekannt ist, bleibt sie zwischen den Menschen stehen. Wenn sie bekannt wird, dann ist der Weg zueinander frei.
Seit dem Bussgottesdienst begann sich auch politisch etwas zu bewegen. Aus Rücksicht auf die Türkei, die den Völkermord bis heute verharmlost und nicht anerkennt, war die Bundesregierung sehr zögerlich in der Anerkennung des Genozids. Am 23. April fand Bundespräsident Gauck klare Worte, am 24. April 2015 erkannte der Bundestag den Völkermord an. Für die Opfer ist die Anerkennung eines Mitbeteiligten ein wichtiger Schritt zur Heilung. Und ich ahne, dass unsere Buße und unsere Gebete mit dazu beigetragen haben, die Herzen aufzulockern.
Rosemarie war dann auch nach Armenien eingeladen, um dort – anlässlich des 100. Jahrestages des Völkermords – ebenfalls in einem Gottesdienst zu sprechen. Ich fuhr mit, um sie freundschaftlich zu unterstützen. Es waren vier bewegende Tage. Nur etwa eine halbe Million Armenier haben den Genozid überlebt – fast jeder hat tragisches zu erzählen:
- Mein Großvater konnte mit seinem Bruder fliehen. Sie verloren sich aber auf der Flucht, fanden sich nie wieder. Er hat noch gesehen, wie seine schwangere Schwester ermordet wurde.
- Aus meiner Familie wurden 27 Menschen an einem Tag ermordet. Mein Großvater war der einzige Überlebende. Er floh nach Aleppo.
- Meine Familie floh in den französisch verwalteten Teil Syriens. Als Frankreich diesen Landstrich an die Türkei abgab, mussten wir nochmals fliehen.
- Meine Großeltern auf beiden Seiten der Familie wurden alle ermordet.
Es kann einem einfach nur das Herz zerreißen. Und Staunen lassen über den Glaubensmut der Armenier. Ein türkischer Offiziere hatte Mitleid mit einem 12-jährigen Jungen und bot ihm an, ihn zu verschonen, wenn er zum Islam konvertieren würde. Die Antwort des Jungen: “Ich lebe und sterbe für Christus!”
Da haben Menschen einen Preis dafür bezahlt, ihren Glauben und ihre Herkunft nicht zu verleugnen… die Armenier sprechen davon, dass das ein Same ist, der in die Erde gefallen ist und eines Tages viel Frucht bringen wird.
Beim Bussgottesdienst in Armenien gab es eine Zeit, in der wir Jesus angebetet haben. Auf der Bühne standen junge Armenier und sangen von Herzen – ergreifend und tief. Plötzlich war es, als würde sich ein Fenster in den Himmel öffnen. Ich sah vor meinem inneren Auge lauter armenische Großmütter, die auf das Musikteam schauten und sagten: “Schau mal, das ist meine Enkeltochter” “Und das hier ist meine!” “Und schau, sie betet Jesus an – mein Opfer hat sich gelohnt!” Und Jesus, der hinter ihnen stand, sagte auch “Mein Opfer hat sich gelohnt!”
Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich Armenien immer als ein Land der Opfer gesehen. Der innere Blick auf die Freude und den Stolz der Großmütter hat meine Perspektive verändert. Ich empfand, dass Jesus mir sagt:
“Armenien ist das Land der glücklichen Großmütter!”