2 Taschen von einer staatenlosen Palästinenserin und einer israelischen Jüdin.

Mariam, Rahel und zwei Taschen

Mariam, Palästinenserin

„Bitte, kannst du das machen?“ Mariam* blickte mich mit flehentlichen Blick an. „Bitte.“ Ihre Bitte war groß. „Bitte zünde in der Grabeskirche eine Kerze für uns an und bete, dass unser Schicksal sich wendet!“ Unser Schicksal. Im Jahr 1948 hatten mehrere arabische Staaten den neu gegründeten Staat Israel angegriffen und zum großen Erstaunen aller den Krieg verloren. Israel gewann weitere Gebiete dazu. Die Araber, die auf diesen Gebieten lebten, waren teils freiwillig gegangen – in der Erwartung nach dem Krieg zurückkehren zu können. Teils wurden sie vertrieben.

In den Ländern wie dem Libanon, Irak, Jordanien fanden sie Zuflucht, aber keine Heimat. Bis heute gelten Palästinenser, die aus dem heute israelischen Territorium kamen, dort als Flüchtlinge. Viele leben nach wie vor in großen Flüchtlingslagern, die mittlerweile aus einfachen Betonbauten bestehen und haben dort – seit nunmehr 75 Jahren – keine Bürgerrechte. Zum Teil um das politische Gleichgewicht im eigenen Land nicht zu gefährden, zum Teil um Druck auf Israel auszuüben.

Es ist grotesk: Die Kinder, Enkel, Urenkel und Ururenkel der Flüchtlinge von 1948 haben in den Ländern, in denen sie geboren wurden und leben und arbeiten noch immer Flüchtlingsstatus und keine Bürgerrechte.

Für mich als Deutsche ist das kaum zu verstehen. Jeder Vergleich hinkt, aber der einzige, der mir einfällt ist, als wenn wir in Deutschland die Ostpreußen und Sudetendeutschen und ihre Kinder, Enkel und Urenkel weiter in Flüchtlingslager stecken und ihnen Pässe, Zugang zu guter Bildung und vielem mehr verweigern würden. Um Druck auf Polen, Russland und Tschechien auszuüben, um „unsere“ Gebiete in Sudetenland und Ostpreußen zurück zu bekommen.

Die Leidtragenden sind immer die einzelnen Menschen. So wie Mariams Familie. Sie hatten es doppelt schwer, weil sie als orthodox christliche palästinensische Flüchtlinge im Irak noch weniger galten als die muslimischen Palästinenser. Sie flohen erneut. In der Hoffnung auf ein etwas besseres Leben. Nach Jordanien.

Dort kamen sie vom Regen in die Traufe. Als Flüchtlinge hatten sie keine Arbeitserlaubnis, konnten sich nur mit illegalen Beschäftigungen über Wasser halten. Susanna und Chris, die Freunde, die ich dort besuchte, halfen ihr so gut sie konnten.

Als Mariam hörte, dass ich nach Israel reisen würde, besorgte sie zwei Kerzen und drückte sie mir in die Hand. „Bitte zünde sie in der Grabeskirche an und bete, dass unser Schicksal sich wendet!“ „Bitte!“ in ihrem Blick stand die ganze Hoffnung geschrieben, dass ein Gebet von mir gesprochen in der in ihrer religiösen Tradition besonders bedeutungsvollen Grabeskirche ihr Schicksal ändern würde. Sie selbst konnte – als Flüchtling ohne Pass – natürlich nicht dorthin.

Als Staatenlose konnte sie nirgendwo hin. Ich mit einem deutschen Pass natürlich schon. „Ja, ich mache es!“ Selten in meinem Leben habe ich mich so machtlos gefühlt. Das Schicksal einer Familie als Last auf meinem Herzen.

„Ja“ sagte ich innerlich, als ich mich in die lange Schlange der Pilger einreihte, die anstanden, um am vermeintlichen Grab von Jesus zu beten und die Kerzen zu entzünden. „Herr, hilf Mariam!“ konnte ich nur flüstern. Als ich nach Jordanien zurück kam, waren ihre Augen voller Dankbarkeit und sie drückte mir eine kleine Tasche in die Hand, die sie mit traditionell-palästinensischen Kreuzstichmuster bestickt hatte. „Danke, dass du es für mich gemacht hast.“ Ich habe den Kontakt verloren und weiß bis heute nicht, ob sich ihr Schicksal geändert hat. Ich habe die kleine Tasche oft genutzt. Die aufgestickten Zierperlen haben sich mittlerweile von der Stickerei gelöst, aber sie ist immer noch schön. Und manchmal, wenn ich die Tasche nutze, bete ich für Mariam und die anderen Frauen, Männer und Kinder, die in ähnlichen Situationen gefangen sind.

Rahel, Jüdin

Zwanzig Jahre später. Wieder an der mittlerweile fast zu einer Festung ausgebauten Grenze von Jordanien nach Israel. Wohin ich will, fragt der Grenzbeamte. Ich bin auf dem Weg zu Kite Pride, einem Sozialunternehmen in Tel Aviv, gegründet und geführt von den Schweizern Tabea und Matthias Opplinger.

Dort finden Menschen, vor allem Frauen, die aus Armut oder durch Gewalt zur Prostitution gezwungen waren, Arbeit. Oft bekommen sie dort ihre erste Ausbildung, soziale Betreuung und einen Einstieg in eine geregelte Beschäftigung ohne Ausbeutung. Sie lernen nähen und stellen aus alten Surf-Segeln coole Taschen her.

So wie Rahel* . Die in sich gekehrte Frau mit dem gepflegten Erscheinungsbild spricht nicht viel. Sie ist über die Nähmaschine gebeugt und führt geschickt die sorgsam gepflegten Hände mit den zierlichen Ringen über den Stoff. Ich weiß nur wenig von ihrer Geschichte. Nur dass sie jahrelang anschaffen gehen musste, um sich und ihr Kind über Wasser zu halten. Mit vielen Männern täglich schlafen. Jeden Tag aufs Neue.

2 Taschen von einer staatenlosen Palästinenserin und einer israelischen Jüdin.

Jetzt ist sie froh, sicher zu sein. Zur Ruhe zu kommen. Eine neue Existenz aufzubauen. Sie zeigt mir stolz eine der Taschen, die sie genäht hat. Blau und gelb. Fröhlich. Voller Hoffnung.

Ich kaufe sie und nutze sie oft. Mittlerweile ist sie etwas schmnuddelig, aber hat die perfekte Größe, wenn ich einen Spaziergang machen und nur wenig mitnehmen will. Rahel ist froh, sicher zu sein stimmt nicht mehr. Sie war froh. Jetzt im Herbst 2023 kann Rahel nicht arbeiten. Sie ist nicht länger von Zuhältern, Männern und Armut bedroht, sondern von Bomben. Tel Aviv wird aus dem Gaza – Streifen heraus von der Hamas mit Raketen beschossen. In der Nähe der Betriebsräume von Kite Pride gibt es keinen Schutzraum, in dem die Mitarbeitenden – Juden, Christen und Muslime – vor Bomben sicher wären. Der blanke Haß, die Gefahr für ihre Existenz und ihr Leben trifft alle. Also bleiben sie zu Hause. Der Betrieb steht still. Über Spenden, weil es keine Einnahmen gibt, erhalten sie zumindest weiter ihren Lohn.

Doch die Hoffnung, die Zukunft, die Perspektive etwas lernen, gemeinsam mit anderen auf dem Weg in ein besseres Leben zu sein, und sich eine neue Existenz aufbauen zu können – die Hoffnung ruht – zumindest so lange wie die Bomben fallen. Keiner weiß, wie lange das dauert und ob und wie es weitergeht. „Shalom, Rahel“, bete ich leise. „Salam, Mariam“, „Frieden euch beiden und allen anderen.“

* Namen geändert. Kitepride unbeauftragte Werbung.
Bild Taschen: Kerstin Hack, Bild Grabeskirche: Rimarkable Pictures mit freundlicher Genehmigung.

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