Moria auf Lesbos: Aus dem Schlimmsten etwas Besseres machen
Fotografieren des Camps und der Bewohner ist verboten. Deshalb kann ich euch nur begrenzt visuell Einblick geben.
Keine Frage: Es ist eine Katastrophe.
- Hier im Camp Moria auf Lesbos, leben etwa 120 unbegleitete minderjährige Jungs – ohne irgendeine amtliche, staatliche Betreuung, Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation kümmert sich um sie. Das war’s (soweit ich das erkennen kann). Einer der Helfer kam zu uns an den Frauenbereich, er hatte sich mit einer Rasierklinge mit der sich ein Junge geritzt hatte, geschnitten. Etwa die Hälfte der Jungs im Camp ritzt sich, um Mut zu zeigen, Schmerz zu betäuben oder einfach überhaupt noch etwas zu fühlen. Ich hatte Jodsalbe und Pflaster dabei, verarztet ihn kurz.
- Andere Hilfsorganisationen organisieren für die Kinder 1 – 2 Stunden Schulunterricht pro Tag. Die Mädchen zeigten mir stolz, was sie gelernt haben (nicht dass ich eine Chance gehabt hätte, Farsi zu lesen…aber es sah gut aus!)
- Die 120 allein reisenden Frauen (das klingt nach Vergnügungstrip, ist aber harte Realität) haben ebenfalls eine Betreuerin, die von einer Hilfsorganisation gestellt wird.
- Für alle anderen gibt es den Info-Point, auch von Helfern bemannt, an dem sie – vielleicht – Hilfe bekommen können.
Nur ein Teil der Bewohner, wohnt in – völlig überfüllten – Wohncontainern. Die anderen in Zelten, die die es noch schlechter erwischt haben, lediglich unter Planen .Hier sind die Nächte noch so kalt, dass ich mit drei!! Decken gefroren habe. Ich mag mir nicht vorstellen, wie es für die Menschen im Camp ist.
Und in allem beeindruckt mich, wie Menschen das Beste aus einer wirklich bescheidenen Situation machen.
- Ein Mann bäckt Fladenbrot und läuft durchs Lager und verkauft es dort und in seinem aus Paletten selbstgebauten Stand – der regelmäßig von der Polizei zerstört wird, weil es nicht erlaubt ist, Dinge zu verkaufen ohne die Einnahmen zu versteuern.
- Ein anderer verkauft Popcorn und Flip-Flops, dann gibt es drei Friseure…
- Menschen haben schwere Steine aus den Feldern angeschleppt und daraus mit Schnüren als Anker für die Zeltplanen gemacht.
- Als „Kühlschränke“ dienen Obstkisten, die von außen an die Gitter der Containerfenster gehängt werden, von innen kann man zugreifen.
- Als Baumaterial gibt es nur Paletten und Nägel – deshalb werden Nägel mit Deckeln von Plastikflaschen befestigt, um ein Zerreißen der Plane zu verhindern: „Das hat mein Mann gebaut!“ erklärte mir eine Hazara-Frau stolz und zeigte mir ihr Zuhause aus Paleten, Planen und sogar einer Tür aus Metall.
- Aus Paletten werden Unterlagen für die Zelte, die bei Regen ein Volllaufen der Zelte verhindern) und jede Menge Möbel.
- Eine oder mehrere Frauen aus Somalia haben ihre Papiere zur Weiterreise bekommen. Zum freudigen Anlass wurde von irgendwoher eine CD-Player organisiert, ich war eigentlich zur Wache am Tor eingeteilt, wurde aber mal kurz von einer Mitarbeiterin abgelöst, so dass ich mittanzen konnte – beziehungsweise einfach nur staunen, welche Beweglichkeit die Somali-Frauen in den Hüften haben. Die können Bewegungen, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass sie möglich sind.
- Die Helfer haben irgendwo einen Beamer organisiert, alle Mülltonnen auf Seite geschoben und dann das Spiel Manchester gegen Barcelona auf die Wand eines Containers projiziert. „Ich bin Barcelona-Fan“, erklärte mir ein Junge stolz, der sich zu Beginn unserer Begegnung vor allem dadurch hervortrat, dass er versuchte, die Regeln zu zu brechen und durch das Tor, das ich hütete, in den Geschützen Bereich für die Single-Frauen zu kommen. Nach einer Weile bat ich ihn, mir zu helfen. Er schob den Riegel auf und zu, war stolz wie Oskar und erledigte seine Aufgabe mit Bravour.
Der Erfindungsreichtum beeindruckt mich. Natürlich kommt er an seine Grenzen, wenn Material fehlt. Als wir gestern mit unserer Putzkolonne anrückten, waren die Menschen einfach nur glücklich und dankbar. Vor den Containern ist eine Art Vordach, das hat sich nach zwei Jahren jede Menge Dreck und Ruß gesammelt. Als die Männer sahen, wie wir Frauen uns abmühten, das Vordach zu reinigen, kletterte der stärkste auf unsere Leiter, ein kleines Mädchen klettert mit hoch und gab ihm regelmäßig frische Schwämme und ein Kumpel hielt die ziemlich wackelige Leiter fest.
Ein anderer Mann mit weißer Häkelmütze, die ihn als Mekka-Pilger kennzeichnete, reinigte Türen und Treppenstufen. Kleine Jungs trugen mit einen Hocker hinterher, damit ich gut die Reste alter Schnüre von Zäunen schneiden konnte. Irgendwann hab ich mein geniales Mini-Schweizer-Taschenmesser verlegt und nicht mehr wiedergefunden. Dann konnte ich mit der Arbeit nicht mehr weitermachen, weil mir die Ressourcen fehlten – niemand in dem ganzen Bereich hatte ein Messer!
Klar gab es dazwischen Tee und Geschichten. Von dem einen Mann, der es bereits bis Deutschland geschafft hatte und in dem einen Jahr dort sehr gut Deutsch gelernt hat. Dann starb sein Vater. Er ging trotz aller Gefahren zurück nach Afghanistan, weil die Tradition das erfordert. Er wusste nicht, dass er damit seinen Anspruch auf Asyl verlieren würde.
Die Geschichten der Frauen
Am Abend bewachte ich von 20.00 bis Mitternacht das Tor in den Geschützen Bereich der Frauen. Da war dann Raum für längere Gespräche – vor allem mit gebildeten Frauen aus Afghanistan
Etwa die Polizistin aus Kabul, die um die Familie zu versorgen einen gefährlichen Job annahm und nach Feierabend um 16.00 noch an die Abend-Uni ging, um Jura zu studieren. „Manchmal war so viel Verkehr war, dass die Busse stecken blieben. Dann bin ich gerannt, um es rechtzeitig zur Uni zu schaffen. Es ist nicht leicht hier (sie lebt mit 11 anderen Frauen in einem halben Container), ich vermisse meine Familie, aber ich bin froh, in Sicherheit zu sein.“
Sie sagte, sie wüsste nicht, ob sie das schafft. Klar kam dann der Coach in mir heraus. Ich habe sie auf all das hingewiesen, was sie schon geschafft und an Schwierigkeiten überwunden hat. Sie sagst am Ende „Jetzt geht es meinem Herzen besser!“
Oder die zwei Schwestern, die in der Abendschule Englisch gelernt hatten und von denen die eine später ein Hotel eröffnen will, weil sie gern kocht und Menschen bewirtet. „Aber vielleicht als ersten Schritt einmal einen Coffee Shop“. Ihre Schwester will ihr Ingenieurs-Studium fortsetzen – im Camp ist das schwer, weil das Internet so schlecht ist.
Dann war die Somali-Frau, die mir erzählte: „Meine Schwester ist in Deutschland. Dort sagte man ihr: Komm um 11.00 zum Termin und sie kam sofort um 11.00 dran. Das ist besser als hier in Griechenland.“ Ich habe ihr gesagt, dass es nicht überall in Deutschland so gut klappt… und vermutlich nicht überall in Griechenland so lange dauert, wie in Moria.
Sie erzählte mir auch von einer Rippenverletzung, die sie erlitten hat, als eine große, starke Somali-Frau auf sie losgegangen war. Ob in Somalia oder im Camp hab – wegen bruchstückhaftem Englisch – ebensowenig herausgefunden wie die genauen Gründe warum sie sagt „I am finished with Somali men!“
Müde bin ich in mein warmes Bett gefallen. Die anderen hatten mir eine Plastikflache mit heißem Wasser unter die Bettdecke gelegt… ein Luxus, den ich nach dem kalten Abend im Camp sehr zu schätzen wusste.
Ich bin heute Abend wieder im Einsatz. Heute ist ein Boot mit 53 Geflüchteten angekommen. Die anderen aus dem Team haben uns gemeldet, das das Internet im Camp nicht geht, was bedeutet, dass die Neuankömmlinge nicht registriert werden können und ins Camp kommen können. Sie müssen im Wartebereich warten – ein paar Stunden, bis Morgen… keiner weiß es.