Tag 4 + 5 im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos
Als Team haben wir viel Zeit damit verbracht, das äußere und die Dächer von Wohncontainern zu reinigen, die mit Graffiti beschmiert oder auch einfach nur durch die jahrelange Benutzung verschmutzt waren.
Schnüre und Knoten
Ich habe Schnüre von Zäunen geschnitten. An den Metallzäunen wird alles befestigt: Wäscheleinen, Behelfszelte, Mülltüten, Kinderwägen… wenn Menschen weiterziehen nehmen sie oft die Schnüre mit. Schnüre sind im Camp wertvoll. Zurück bleiben Knoten und Fetzen im Zaun, weil die Energie oder das Werkzeug fehlt, um die Schnüre wieder zu lösen. Im Lauf der Zeit sammelt sich in den Fetzen der Dreck, es wird unansehnlich.
Also ging ich mit meinem tollen Schweizer Taschenmesser – das ich leider am Ende von Tag 1 verloren habe – gegen die Knoten an. Blieb zweimal mit den Händen im Nato-Draht hängen, der die Zäune nach oben begrenzt – die Kanten sind messerscharf, echt brutal. Insgesamt habe ich Schnüre aus etwa 500 verschiedenen Materialien entfernt: Kabelbinder, Wolle, Tücher, zerschnittene Reste von Wolldecken, Drähte, sogar ein Reissverschluss war verknotet.
Während ich die Schnüre entfernte, betete ich für die Menschen, die sie aufgehängt haben. Ich habe mich gefragt, wo sie jetzt wohl sind.
- Sind sie noch in Griechenland ?
- Haben sie es in eines der Wunschländer geschafft: Deutschland, Frankreich oder Schweden, die mir hier immer wieder als Favoriten genannt wurden.
- Wurden sie in die Türkei abgeschoben oder zurück in ihre Heimatländer?
- Leben sie noch?
Egal wo sie sind, Gott weiß es. Und ich bitte ihn, den Menschen, die die Schnüre aufgehängt haben, nahe zu sein, sie zu segnen und ihnen zu helfen.
Die neuen Menschen und Schnüre
Und dann sind da die Menschen, die jetzt die Schnüre aufhängen.
- Die Frau aus Afghanistan, deren Mann Drogen geraucht und gespritzt hat und den sie dann entweder verlassen hat oder der gestorben ist (wir haben aus den Fragmenten, die wir beim Erzählen verstanden haben unterschiedliche Bilder zusammengesetzt).
- Die afghanische Frau die eine Whats App Gruppe für die anderen Frauen gegründet hat, in der sie Material zum Thema “Umgang mit Ängsten” herunterladen. Ich hab Wingwave zur Stressbewältigung erklärt und ihr gesagt, wie sie die App bekommt.
- Die Frau die mir sagt: “I am done with Somali men!” (sie hat mir auch die Geschichte dazu erklärt, aber aus den Wortfetzen hab ich nichts Klares verstanden)
- Der Junge, der davon erzählt, wie in Afghanistan eine Bombe neben ihm hochging.
- Die Mutter, die ihr Kind nachts zum Arzt bringt, weil es von einer Ratte gebissen wurde (nicht sehr tief, aber Desinfektion war trotzdem sinnvoll)…
- und und und…
Die fehlende Sprache
Immer wieder Sprachbarriere. Bei uns im Team, wo nur die Hälfte eine Sprache spricht, die auch die anderen verstehen. Was ich oft nicht einfach fand. Da ist man mitten unter Menschen – und doch nicht dabei, weil man einfach nicht versteht, was sie sagen. Ich frage mich, wie das den Menschen im Camp geht, die das – außer bei Angehörigen ihrer eigenen Volksgruppe ja dauernd erleben.
Da haben wir mit dem Putzen der Häuser begonnen und konnten nicht erklären, was wir tun. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn plötzlich Morgens um 8.00 eine Putzkolonne an meinen Schiffsfenstern putzt!
Oder als wir zur Datenerhebung in die Wohncontainer gingen und uns von den Menschen die amtlichen Papiere zeigen lassen mussten, um zu überprüfen, ob die Menschen da wohnen, wo sie registriert sind – damit man sie erreichen kann, wenn man sie zu Arztterminen oder amtlichen Termine ruft. Amtliche Papiere heißen hier einfach “Police Papers” . Wir klopften wir an Tür um Tür – genauer gesagt an die Wand neben denen die Decken hingen, die die Räume abteilten.
Um uns verständlich zu machen, sagten wir “Police papers“, aber wir konnten – außer bei einer Frau, die gut Englisch sprach – nicht erklären, warum wir die Papiere brauchten. Mir tat das so weh. Ich selbst würde das als sehr beängstigend oder übergriffig empfinden, wenn plötzlich jemand meine “Police Papers” sehen will, ohne dass ich weiß, was Sache ist.
Ich wünschte, ich hätte ein paar bessere Sprachschnüre gehabt, um Verbindungen zu bauen, die Sorge aus der Situation zu nehmen.
Wie viel Angst da ist, kann man nur ahnen..
- Wenn man die Arme der Jungs voller Narben vom Ritzen sieht
- Wenn Frauen von der Unsicherheit gegenüber Männern sprechen
- Wenn man davon hört, dass eine Frau in einem geschlossenen Raum nicht schlafen kann
- Wenn man von Alpträumen hört
Manchmal kann man die Angst auch riechen. So wie vorgestern, als wir das Zelt, in dem die Neuankömmlinge übernachtet haben, geräumt haben. Einige der Decken stanken intensiv nach Urin. Ich habe mich gefragt, ob Kinder aus Angst und Erschöpfung eingenässt haben. Oder Frauen, die es nicht wagten, Nachts alleine zur Toilette zu gehen, weil die Erfahrung sie gelehrt hatte, das besser nicht zu tun…oder ob dem einen oder anderen Mann die Angst im Körper sass. Ich werde es nie erfahren.
Wenn ich all die Schnüre und Schicksale, die sich hier kreuzen, verstehen will, verheddert sich in meinem Kopf alles. Vieles – etwa zu wissen, wie viele Menschen nicht am Ziel ihrer Träume ankommen werden – macht mich traurig und hoffnungslos. Da kann ich wirklich nur das kleine Stück eines Menschenlebens, das mir begegnet ist, in Gottes Hand legen… und ihn um Segen und Hilfe bitten
Die Decken werden gereinigt und wieder verwendet. Decken, die nach jahrelangem Gebrauch zerschlissen sind, werden in Streifen geschnitten, Die werden dann wieder verwendet, um Planen an Zelten zu befestigen. Für neue Menschen mit neuen Geschichten.